
In meiner monatlichen Wachstumsgruppe nehmen wir uns im Oktober und November die Zeit genauer anzusehen, wie wir Informationen, die wir in unserer Umwelt aufnehmen, bewerten und letztendlich unsere Handlung dementsprechend ausrichten.
Dieser Punkt wird interessant, wenn wir uns das Thema Stress ansehen.
Stress ist nämlich eine Entscheidung und kein äußerer Zustand. Unser System entscheidet was stressig ist und nicht was wir denken, was stressig sein könnte.
Und vielleicht ist Dir das schon einmal selbst aufgefallen in einer Situation mit vielen Menschen, die unterschiedlich auf diese Situation reagieren.
Wie kann das sein, fragst Du Dich?
Natürlich hängt es mit dem Zustand Deines Vegetativen Nervensystems zusammen, ob dieses auf Kampf, Flucht, Erstarrung, Immobilisierung oder Entspannung gepolt ist.
Doch all das beginnt schon einen Schritt vorher mit der Reizaufnahme in der Außenwelt, zwischenmenschlich aber auch in Deinem Körper.
In der Fachsprache nennen wir diesen Prozeß Neurozeption. Neurozeption ist die Aufnahme der Reize durch unsere Sinne wie Hören, Sehen, Schmecken, Riechen oder auch Fühlen. Dieser Begriff beschreibt laut Stephen Porges in der Polyvagaltheorie, wie neuronale Kreisläufe darüber entscheiden, ob eine Situation sicher, gefährlich oder lebensbedrohlich ist. Unser Unterbewusstsein sucht unsere Umwelt, im Kontakt mit Menschen und auch in unserem Körper nach Signalen wie Gefahr oder Sicherheit.
Dieser Prozess ist ein ständig ablaufender und unbewußter Prozess in dem unser vegetatives Nervensystem die aufgenommen Informationen sekundenschnell und ohne unser logisches Denken evaluiert, um dann letztendlich entsprechende Reaktionen im Körper auszulöst. Nach der Evaluierung der Informationen werden neurochemische Vorgänge im Körper wie eine Mobilisierung durch Adrenalin oder Cortisol oder eine Immobilisierung durch körpereigene Opiate ausgelöst. Diese neurochemischen Vorgänge triggern entsprechende Emotionen und Körperempfindungen und bringen bestimmte Gedanken hervor, aus denen wir letztendlich unsere Geschichte oder Erklärung über diese Situation formen.
Kurz gesagt ein physiologischer Zustand kreiert eine psychologische Geschichte und dementsprechende Handlungsweisen.
Wichtig ist zu verstehen, dass Neurozeption in unserem Unterbewusstsein stattfindet, ohne die Einbeziehung unseres logischen Denken. Wir können uns also nicht bewußt dafür oder dagegen entscheiden.
Dieser „primitive“ und älteste Teil unseres Nervensystems (im dorsalen motorischen Teil unseres Vagus, welcher seinen Ursprung im Stammhirn hat) ist darauf ausgerichtet die Gefährlichkeit einer Situation herauszufinden.
Er liefert uns Informationen, die wir normalerweise nicht durch den bewussten Teil unseres Gehirns (Neocortex oder logisches Denken) aufnehmen können. Er hilft uns zu überleben und sicher durch die Welt zu gehen.
Vielleicht kannst Du es mit Deinem Bauchgefühl oder Deiner Intuition vergleichen, die Dir hilft in Situationen richtig zu entscheiden.
Stell Dir vor 80% unserer Erlebens verläuft vom Körper zum Gehirn (Vagusnerv) und unser Gehirn kreiert aus den gewonnen Informationen einen Sinn oder eine Geschichte (z.B. wie : Sie hat mich manipuliert. / Das konnte ich vorher nicht erkennen. / Das waren unzumutbare Zustände. etc.).
Unser Vegetatives Nervensystem, dessen Reizaufnahme und Evaluierung von Informationen entscheidet letztendlich darüber, wie wir uns im Leben bewegen und uns in zwischenmenschlichen Beziehungen verhalten.
Doch was tuen, wenn die Aufnahme der Information aus dem Innen (Körper) und Aussen (Umwelt und zwischenmenschlichen Beziehungen) falsch läuft?
Dies geschieht aufgrund von Trauma, Schmerzen, Krankheit oder Erschöpfung – unser Vegetatives Nervensystem ist durch diese Dinge stark beeinträchtigt, dysreguliert und extrem wachsam.
Das kennst Du vielleicht aus Momenten, in den Du nicht zur Ruhe kommst, nicht einschlafen kannst, gefangen bist in Ängsten oder in traumatischen Erinnerungen.
In diesen Situationen werden oft neuronale Kreisläufe von Verbindung und sozialer Interaktion unterbrochen.
Hier steht das Überleben über die soziale Interaktion.
Die akkurate Aufnahme und Verarbeitung von Informationen ist stark gestört, wie auch eine gesunde Regulation des Nervensystems.Die Verbindung zu sich selbst, zu anderen oder zur Umwelt ist chronisch dysreguliert bis unterbrochen.Das kann dazu führen, dass eine Person in einer sicheren Situation mit Angst und Immobilisierung reagiert.
Auch können Drogen oder starke Emotionen unsere Wahrnehmung trüben und uns falsche Schlüsse ziehen lassen. Wut, Eifersucht, Panik, Müdigkeit, Hungergefühl oder ein niedriger Blutzuckerspiegel können falsche Reaktionen und letztendlich ungesunde Verhaltensweisen mit sich ziehen.
Aber auch extrem positive Erfahrungen können laut Stanley Rosenberg (Accessing the healing power of the Vagus Nerve 2017, p. 58) diese beeinflussen, wie z.B. während der Verliebtheitsphase (Ausschüttung des Hormons Dopamin) – alles ist rosarot und wir können die Situation oder die Person nicht mehr real einschätzen.
Auch, wenn diese Prozesse unterbewußt ablaufen, können wir mit Achtsamkeit und mehr Bewusstsein diese lernen zu verstehen und letztendlich wirksam zu beeinflussen.
Denn durch eine effektive Nervensystemregulierung können wir die aufgenommenen Informationen und Signale akkurater verarbeiten. Wir stehen mehr im Leben, unsere zwischenmenschlichen Beziehung profitieren davon und es formt unsere Erfahrung von Sicherheit und das Gefühl verbunden zu sein mit dem Leben und mit anderen Menschen.
Daher gibt es eine kleine Achtsamkeitsübung für Dich zum Schluß.
Denn, die Signalaufnahme (Neurozeption) erfolgt auch reziprok – wir nehmen Signale von Anderen auf, wie auch wir Signale an Andere senden.
Frage Dich gern mal:
Was sendet Dein Nervensystem gerade jetzt aus? Welche Informationen bringst Du durch den Ton Deiner Stimme, Deiner Mimik (insbesondere Deiner Augen), Gestik oder Körperhaltung ins Aussen oder empfängst in Deinem Körper?
Oder, was sendet der Mensch gegenüber an Willkommens- oder Sicherheitssignalen aus durch seine Stimme, Augen, Gesicht oder Gestik?
Mit diesen Informationen kannst Du mehr über Dein Vegetatives Nervensystem lernen und die Dinge, die Dir ein Gefühl von Sicherheit oder Gefahr spüren oder ausstrahlen lassen.
Mach Dir gern ein paar Notizen, das kann Dir helfen auch in Situationen, in denen Du normalerweise mit Stress reagierst – diese Reaktionskette effektiv zu unterbrechen, z.B. beim Eintreten des Chefs oder in einer neuen Situation – indem Du ein paar Schlucke Wasser langsam trinkst oder bewußt ein paar tiefe Atemzüge zu nimmst.
Sonnige Grüße für einen sonnigen Alltag
Rabea
3 Kommentare zu „Wie wir der Welt & unserem Erleben Sinn geben – Neurozeption und Reizaufnahme“