
Kein Wort ist wohl so emotionsgeladen wie das Wort Trauma.
Viele Menschen lässt dieser Begriff an unüberwindbare große schockierende Ereignisse denken.
Eine meiner deutschen Kolleginnen meinte kürzlich zu mir, ich solle doch lieber diesen Begriff nicht benutzen, um von meiner Arbeit zu berichten, da dies Leute eher abschrecken würde. Da war ich wirklich baff.
Ich merke wie das Wort Trauma oft noch im deutschsprachigen Raum unterrepräsentiert oder nicht genügend differenziert betrachtet wird.
Im englischsprachigen Bereich ist es für uns etwas ganz Normales geworden von „trauma informed“ oder „trauma sensitive“ yoga zu sprechen.
Für mich lässt sich Trauma in meiner Arbeit mit chronischen Verspannungen, Schmerzen, Erschöpfung oder Krankheiten nicht mehr wegdenken.
Und dank Menschen wie Dr. Gabor Mate, Dr. Peter Levine, Dr. Pat Ogden, Dr. Arielle Schwartz oder Dr. Bessel van der Kolk wissen wir mehr darüber was Trauma tatsächlich ist und wie es Lebensqualität, Körpergefühl und auch seelisches Wohlbefinden enorm beeinflussen und stören kann.
Daher möchte ich mich heute diesem wirklich wichtigen Thema widmen, denn mit jedem Stück Information und Aufklärung, kannst Du Dir ein großes Stück Bewusstsein und Achtsamkeit für Deine Heilung und Deinen Körper schenken.
Mein Trauma-Ansatz schöpft aus dem Bottom-up-Therapieansatz (von Körper zu Kopf).
Die klassische Verhaltenstherapie oder Psychotherapie arbeitet vorwiegend nach dem Top-down-Prinzip (vom Kopf beginnend zum Körper). Das heisst hier werden kognitive Ansätze als zentral angesehen im Gegensatz zum Bottom-up-Prinzip, welches sich auf den Körper bezieht und einen somatischen Ansatz verfolgt.
(Warum ich das Bottom-up-Prinzip in der Traumatherapie und zum besseren Traumaverständnis für mehr geeignet halte – das kannst Du weiter unten im Kapitel: Trauma ist keine Kopfsache nachlesen oder Was braucht es, um in diesem Prozess kraftvoll und gut geankert zu sein?)
Nicht zu Unrecht bezeichnet Dr. Peter Levine, Trauma als die am meisten ignorierte, verleugnete, missverstandene und natürlich auch unterbewertete Ursache für menschliches Leiden. (1)
Dr. Gabor Mate und Levine sehen Trauma neben chronischem Stress als eine der Hauptursachen für Autoimmunkrankheiten und chronische Erkrankungen. Und allein deswegen lohnt es sich Trauma genauer anzusehen und wichtig zu nehmen.
Trauma ist so individuell wie es Menschen gibt
Trauma ist so individuell wie es Menschen gibt, was für den Einen eine kurze Stresssituation ist, kann für den Anderen ein traumatisches Erlebnis sein. (Mehr über warum wir so individuell auf Situationen reagieren, findest Du hier)
Menschen können durch eine Vielzahl von Erlebnissen, die sie als lebensbedrohlich wahrnehmen, traumatisiert werden – sei es bewusst oder unbewusst.
Es ist nicht nur die Situation, die als lebensbedrohlich von unserem Nervensystem aufgenommen wird, sondern auch damit einhergehend, dass Gefühl dieser ausgeliefert zu sein und sich nicht ausreichend schützen zu können.
Diese Gefahrenevaluierung findet fernab von dem Einfluss unseres logischen Denken statt und kann nicht willentlich von uns gesteuert werden. Unsere Sinne, unserer Körper entscheidet also zuerst. (Mehr dazu im Kapitel zum Vegetativen Nervensystem.)
Schon bei kleinen Kinder können wir dies beobachten, das manche Erlebnisse wie Gewitter, ein Lautwerden oder Anschreien große Auswirkungen haben können, die sie überfordern können und sich dann als traumatische Erlebnisse manifestieren.
Mythos Trauma
Erst einmal möchte ich mit dem Mythos aufräumen, dass Trauma groß und dramatisch sein muss. Ich war überrascht wie oft dies noch die allgemeine Erklärung von Trauma ist und sogar in Fachkreisen unzureichend hinterfragt wird.
Trauma lässt sich nicht immer auf eine Katastrophe zurückführen.
Trauma kann durch einen Unfall, einen medizinischen Eingriff, den Verlust eines geliebten Menschen sogar durch erschreckende Nachrichten herbeigeführt werden.
Aber auch Dinge wie Vernachlässigung durch die unmittelbaren Bezugspersonen, emotionale Vereinsamung oder Ablehnung bis hin zu sexualisierter, körperlicher oder mentaler Gewalt führen zu traumatischen Erfahrungen.
Trauma kann über Jahre in uns ruhen und dann plötzlich aufgrund einer Situation wieder getriggert werden.
Dass zeigt sich am Beispiel von Kriegsveteranen, welche durch plötzliche Schrecksituation wieder in alte Ereignisse zurückversetzt werden und wie gelähmt sind. Dr. Bessel van der Kolk hat dies sehr gut in seinem Buch „The Body keeps it Score“ beschrieben.
Trauma ist keine Kopfsache und lässt sich oft nicht logisch erklären
Trauma findet im Körper und nicht nur im Kopf statt, denn es ist unser Körper, der mittels unserer Sinne (hören, riechen, sehen, schmecken) Signale ans Gehirn sendet, welches dieses dann fernab von unserem logischen Denken mittels unseres limbischen Systems evaluiert und dann in Bewegungen oder Abwehrreaktionen umsetzt. (Mehr Informationen darüber wie wir Reize aufnehmen findest Du hier)
In einer Traumatisierung bleiben wir in einer Abwehrreaktion auf diese bestimmte Gefahrensituation stecken.
Steve Haines, Autor des Buches „Trauma ist ziemlich strange“, beschreibt Trauma als ein Steckenbleiben in einem bestimmten Schutzreflex. Und wie wir heute durch Wissenschaftler und Therapeuten wie Stephen Porges oder Deb Dana wissen, kann unser Vegetatives Nervensystem in Abwehrreaktionen wie Kampf, Flucht, Erstarrung oder Immobilisierung stecken bleiben.
So lässt sich Trauma als etwas verstehen, welches uns in einer körperlichen, emotionalen, mentalen Gewohnheit/ einem Habitus oder ein bestimmtes Verhalten gefangen hält.
Peter Levine spricht, von dem Steckenbleiben in einem Überlebensmodus, der dementsprechende hohe Erregungszustaende freisetzt, die ursprünglich dafür entwickelt wurden, kurzfristig Abwehr- und Schutzmechanismen einzuleiten.
Wenn wir nicht wieder in den Ruhemodus zurückfinden und in einem dieser „Überlebensmodi“ steckenbleiben, dann können wir laut Dr. Peter Levine von Trauma sprechen. Und so erklärt es sich, dass auch der Alltag schnell zur Überforderung werden kann.
Dr. Gabor Mate sieht Trauma als Abspaltung von uns selbst und als Trennung vom eigenen Körper und den eigenen Emotionen.
Wir beginnen uns von unserem Geist und Körper abzutrennen und nehmen diese nur noch fragmentiert und ungenau wahr.
So fühlt sich unsere Umwelt, aber auch der eigene Körper für uns nicht mehr sicher an.
Dr. Peter Levine sieht hier eine Gefahr, denn wenn Trauma oder die Erinnerung daran nicht neutralisiert werden, d.h. dieses ausagiert werden kann, bleibt Trauma im Körper stecken, kann jederzeit aktiviert werden und uns aufs Neue traumatisieren.
Er merkt an:
„Werden diese (hier Erregungszustände) nicht aus- oder zu Ende geführt, führt dieser Zustand früher oder später zu Symptomen des Traumas – es sei denn, man behandelt diese.“ (1)
Schon das eigene Gedankenkarusell an diese traumatische Situation, das immer wieder in die Vergangenheit gehen, kann überfordernde Gefühle und Körperempfindungen in uns auslösen. Wusstest Du, dass unser Gehirn nicht entscheiden kann zwischen dem was tatsächlich stattfindet und was sich aufgrund von Erinnerungen in unser Vorstellung abspielt?
Wir sind nicht mehr in der Lage zwischen altem Trauma und der Realität zu unterscheiden. Selbst die Erinnerung daran fühlt sich für unseren Körper real an.
Trauma hinterlässt nicht nur körperliche „Wunden“, die Deine Gehirnfunktionen verändern sondern verändert auch die Abspeicherung von Erinnerungen und die Sicht auf Deine Realität. So werden Erlebnisse, Begegnungen zunehmend durch die „Traumabrille“ betrachtet.
Wusstest Du, dass traumatische Erinnerungen nicht als Geschichte in unserem Gehirn abgespeichert werden sondern in Fragmenten wie Bilder, Gerüche, Töne, Berührung oder Geschmack.
So können nicht nur wiederholende Gedanken re-traumatisieren sondern auch Erinnerungen an bestimmte Bilder, Gerüche, Töne, Berührung oder Geschmäcker können alte Trauma wieder präsent machen.
All das lässt uns nicht mehr im Hier und Jetzt sein, klare Entscheidungen treffen, realistische Perspektiven entwickeln, im Vertrauen und sicheren sozialen Kontakt sein.
Dr. Gabor Mate beschreibt Trauma zurecht als ein zunehmendes Entfremden und Abwenden von sich selbst und der Welt.
Momentum des Innehalten und der Achtsamkeit
Nimm Dir gern einen Moment Zeit nach dem Lesen und spüre nach. Wie geht es Dir beim Lesen dieser Dinge? Wie reagiert Dein Körper? Wirst Du unruhig? Verflacht sich Deine Atmung? Spürst Du Spannung oder Anspannung im Körper?
Nimm gern wahr ohne etwas zu verändern, sei ein paar Atemzüge ganz präsent und lausche.
Entstehen Bilder, Gedanken, Gefühle oder Körperempfindungen? Kennst Du diese Momente, wenn Du Dich von Deinen Körper entfernst, in die Angst gehst, in den Stress, in die Ruhelosigkeit oder Erstarrung?
Vielleicht kannst Du diese Dinge beobachten.
Wenn Du merkst Du bist überfordert oder überwältigt von dem Lauschen, dann: Spüre gut Deine Füße, nimm Dir einen Moment, um diese Empfindungen weiterziehen zu lassen. Vielleicht ist es angenehm die Hand auf Herz zu legen und die Atmung zu spüren oder die Atmung zu vertiefen.
Wie Du siehst lohnt es sich das Thema Trauma näher anzusehen, schon mit dem Hinblick auf die eigene Geschichte. Im nächsten Artikel geht es weiter mit folgenden Themen:
Bin ich traumatisiert? Wie erkenne ich Traumasymptome und Signale?
Können kleine Trauma traumatisieren oder muss Trauma immer groß und dramatisch sein?
Wie wird Trauma zur Lebenschance?
Und weiter unten findest Du noch Literaturempfehlungen zum Thema Trauma.
Sonnige Grüße für ein sonniges Leben
Rabea
P.S.
Und wenn Dich das Thema Trauma und Körpergefühl genauer interessiert, ab März vertiefen wir das Thema in der nächsten Yin Yoga Aufbauausbildung. Ich finde Trauma ist nicht nur interessant, wenn Du mit Bewegung oder Yoga arbeitest sondern kann Dir noch mal einen vertiefenden Einblick in Deinen eigenen Körper und Yogapraxis geben. Neben viel Theoretischem, dreht sich natürlich alles wieder auch um die praktische Umsetzung des neuen Wissens.
Hier kannst Du mehr erfahren:
Literatur und Quellen
Mein Artikel schöpft aus neben zahlreichen Vorträgen von Dr. Peter Levine, Dr. Gabor Mate, Dr. Pat Ogden, Dr. Bessel van der Kolk auch aus folgender Literatur: (Ich lese gern im englischen Original, habe Dir aber, wenn vorhanden die deutsche Übersetzung rausgesucht.)
Vom Trauma befreien (2007) – (1), Peter A. Levine
Trauma-Heilung – Das Erwachen des Tigers (1998), Peter A. Levine
Verwundete Kinderseelen heilen (2013), Peter A. Levine
Sprache ohne Worte (2011), Peter A. Levine
Trauma und Gedächtnis: Die Spuren unserer Erinnerung in Körper und Gehirn – Wie wir traumatische Erfahrungen verstehen und verarbeiten (2016), Peter Levine
Verkörperter Schrecken – Traumaspuren in Gehirn, Geist und Körper und wie man sie heilen kann (2015), Bessel van der Kolk
Die Polyvagaltheorie – Traumabehandlung, soziales Engagement und Bindung (2021), Stephen Porges
Die Polyvagal-Theorie in der Therapie: Den Rhythmus der Regulation nutzen (2021), Deb Dana
Wenn der Körper nein sagt: Wie verborgener Stress krank macht – und was Sie dagegen tun können (2020), Gabor Mate
Im Reich der hungrigen Geister: Auf Tuchfühlung mit der Sucht – Stimmen aus Forschung, Praxis und Gesellschaft (2021), Gabor Mate
Sensorimotor Psychotherapy (2017), Pat Ogden
Trauma ist ziemlich strange (2019), Steve Haines
Eine Reise von 1000 Meilen beginnt mit dem ersten Schritt: Seelische Kräfte entwickeln und fördern (2020), Luise Reddemann
Imagination als heilsame Kraft (Imagination als heilsame Kraft. Zur Behandlung von Traumafolgen mit ressourcenorientierten Verfahren): Ressourcen und … Behandlung von Traumafolgen (Leben lernen) (2016), Luise Reddemann
Trauma verstehen, bearbeiten, überwinden: Ein Übungsbuch für Körper und Seele Taschenbuch (2020), Luise Reddemann
Noch nicht gelesen aber eine gute verständliche und praktische Einführung in die Problematik von deutschen Traumaexpertinnen:
Bin ich traumatisiert?: Wie wir die immer gleichen Problemschleifen verlassen (2021), Verena König
Auch alte Wunden können heilen: Wie Verletzungen aus der Kindheit unser Leben bestimmen und – wir dennoch Frieden in uns selbst finden können. (2018), Dami Charf
4 Kommentare zu „Trauma – Mythos & Taboo – Teil 1“